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Veröffentlichte Bücher: "Life on the Line - The heroic story of Vicki Moore" von Matilda Mench und "Rettet den Gnadenhof" von D.L.M. Mench, sowie Gute-Nachtgeschichten für Kinder usw.

Sonntag, 17. Dezember 2017


Wieso denn ausgerechnet Duisburg?

Schafe am Rheinufer

Ein kleines Mädchen steht im kalten Dezemberregen und ist vollkommen verzweifelt. Sie möchte das große bunte Herz retten, das sie zuvor mit Kreide auf den Bürgersteig am Gartentor gemalt hat. Hilflos umkreist sie das Herz immer wieder, doch der Regen kennt kein Erbarmen. In der Dunkelheit bemerke ich erst jetzt, dass auch die Mutter am Gartenzaun steht. Bei Eiseskälte ohne Regenschutz im Dunkeln sind die beiden draußen. Sie sind hart im Nehmen, diese Duisburger. Respekt!, denke ich.


Wieso denn ausgerechnet Duisburg? Diese Frage wird mir grundsätzlich gestellt, wenn ich erzähle, dass ich vor ein paar Jahren aus dem Ausland hier zugezogen bin. Selbst Menschen, die eigentlich stolze Duisburger sind, wundern sich über die Wahl meines Wohnortes. Auch der Duisburger Oberbürgermeister Sören Link fragte mich das einmal.

Wieso denn nicht Duisburg?, sollte ich eigentlich antworten. Würde mich jemand aus Paris oder New York auch fragen, wieso denn gerade Paris? oder wieso denn ausgerechnet New York? Wohl kaum. 

Diese Frage zeigt das mangelnde Selbstbewusstsein der Duisburger, wenn es um ihre Stadt geht. Und das ist wirklich schade. Für mich ist Duisburg so vielfältig und spannend, dass ich mich einfach nicht sattsehen kann. Obwohl mein Neubeginn sich etwas holprig gestaltet hat, (s. a. Befristet), habe ich das Gefühl, angekommen zu sein. Eigentlich bin ich eine Nomadin, die gerne alles einpackt und anderswo wieder neu anfängt. Doch jetzt bin ich ziemlich sicher, dass ich hier nicht mehr weg will.


Aussicht vom Alsumer Berg
Für mich hat Duisburg Suchtpotential. Ich bin süchtig nach der einzigartigen Mischung aus Natur, Industrie und Kunst unter freiem Himmel. Süchtig nach der Aussicht vom Alsumer Berg, bei der man sowohl den Rhein, das Moerser Geleucht, als auch die Industrietürme überblicken kann. Berechenbar ist die Aussicht nie, denn je nach Wetterlage und Jahreszeit ist immer wieder alles anders.


Aussicht vom Alsumer Berg
Und die Sonnenauf- und untergänge auf der Homberger Rheinseite sind so spektakulär, dass man Zickzack durch die vielen Hobbyfotografen laufen muss, die sich dort am ultimativen Bild versuchen.

Die Duisburger wissen, dass ihre Stadt auswärts grundsätzlich mit Vorurteilen zu kämpfen hat. Dabei ist der Ruf nicht verdient. Soweit ich es überblicke, scheint es hier nicht mehr und nicht weniger gefährlich zu sein, als anderswo. Wie in allen großen Städten muss man eben auf sich aufpassen. Gibt es irgendwo auf der Welt eine Großstadt, wo man viel unternehmen kann, in der es jedoch keinerlei Risiko gibt? Wohl kaum.

Leider kann man Bundespolitiker nicht fernhalten, die für ein paar Stunden in Marxloh aufschlagen, nach dem Motto "wir kümmern uns" alles schlechtreden und dann wieder abreisen. Pech gehabt, Duisburg. Mal wieder schlechte Presse!


Vor allem im europäischen Ausland hat Duisburg ein schlechtes Image, das überwiegend auf dem Zuzug von Rumänen und Roma beruht. Allerdings weiß ich auch von "Problemhäusern" in Düsseldorf, wo das Wohnen für Menschen die Hölle ist, doch die Medien konzentrieren sich dort eben eher auf die Partymeile und die Schickeria.
Besser bekannt und positiver besetzt ist Duisburg wohl bei Chinesen. Aufgrund der wirtschaftlichen Beziehungen im Zusammenhang mit dem Hafen werden jetzt vermutlich mehr chinesische Geschäftsleute nach Duisburg kommen. Wenn das für sie geplante Hotel im Businesspark Asterlagen steht, bringen sie vielleicht auch ihre Familien für einen kurzen Urlaub mit. Eine Busreise nach Schloss Neuschwanstein lässt sich auch von hier aus organisieren. So weit ist das eigentlich nicht, oder?

Zum Thema Vorurteile fällt mir noch ein anderer Aspekt ein: Wer noch nie hier war und die Stadt nur aus den Schimanski-Tatorten kennt, vermutet, dass hier alles grau in grau ist und dass man hier kaum atmen kann. Zwar fällt das Atmen im Winter manchmal schwer, wenn aufgrund der in Mode gekommenen mit Holz betriebenen Kaminheizungen viele Einfamilienhäuser zeitgleich einen Brandgeruch aus den Schornsteinen schleudern, aber ansonsten ist hier nichts verpestet. Und es ist grün! Fast überall.

Blick über den Rhein nach Schwelgern
Für Heuschnupfengeplagte sind die vielen Bäume im Frühjahr eine Herausforderung, aber ansonsten ist es erstaunlich und irgendwie beruhigend, wie schnell die Natur sich Flächen zurückerobert, die von der Industrie nicht mehr genutzt werden. Wie das funktioniert, kann man in den Sommer-Exkursionen der VHS Duisburg lernen. Diese führen unentgeltlich zu verschiedenen Biotopen in ganz Duisburg. Da ich mich bekanntlich für Klitzekleine Kreaturen interessiere, konnte ich bei diesen Führungen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen (was ich nie tun würde, nicht einmal eine): Ich lerne etwas über die Umwelt und ihre tierischen Bewohner und komme in Ecken der Stadt, von deren Existenz ich nicht einmal gewusst hätte. 


Eine weitere großartige Gelegenheit, die Stadt näher kennenzulernen, sind auch die Bürgerspaziergänge mit dem Oberbürgermeister. Sie finden im Rahmen einer Image-Kampagne für Duisburg statt. Die Kampagne soll einerseits den Tourismus ankurbeln und andererseits das Zusammengehörigkeitsgefühl der Duisburger und die Identifikation mit ihrer Stadt stärken.


Pumpwerk Alte Emscher
Ich habe den Eindruck,  dass die Bürgerspaziergänge mittlerweile Kultstatus erlangt haben. Egal wie schlecht das Wetter auch sein mag, egal wie voll das Programm von Sören Link und seinem Team ist, sie werden durchgezogen. Auch wenn der Oberbürgermeister den falschen Mantel anhat und stundenlang frieren muss. Und es gehen immer wieder viele Menschen mit. Die perfekt vorbereiteten Spaziergänge sind eine Mischung aus Stadtführung und Ausflug ins Grüne. Oft kann man Orte besichtigen, in die man sonst nicht so einfach reinkommt, wie z.B. das Pumpwerk Alte Emscher oder die Galerie des Künstlers Cyrus Overbeck in einer ehemaligen Brotfabrik.
Bild von Cyrus Overbeck,
bevor es signiert und an die
Stadt verschenkt wurde

Vertreter der allgegenwärtigen Industriebetriebe geben bereitwillig Auskunft. Bezirksvertreter der jeweiligen Zielorte machen sich viel Mühe, ihren Stadtteil zu präsentieren. Fragen sind absolut willkommen.

Zunächst hatte ich Bedenken, dass es sich bei diesen Ausflügen um verkappte Wahlveranstaltungen für die SPD und Sören Link handeln könnte. Immerhin hatten wir in NRW 2017 nicht nur die Bundestagswahl, sondern auch die Landtagswahl und die Wahl für den Oberbürgermeister. Aber meine Skepsis erwies sich als absolut unbegründet. Sören Link und sein Team zeigten sich erstaunlich zugänglich für Probleme der Bürger.
Man kann in Duisburg regelrecht in Termindruck geraten, weil es so viele Freizeitangebote und Veranstaltungen gleichzeitig gibt. Irgendwo ist immer etwas zu bestaunen und vieles ist kostenlos. Highlights waren sicherlich die gigantische Sandburg im Landschaftspark Nord, der „Tag des offenen Denkmals“ und der künstliche Pottwal am Rheinufer (übrigens hat auch Duisburg einen Walhaiforscher!).

Auch Gemeindefeste der hier ansässigen Weltreligionen und kleinere öffentliche Angebote in den Stadtteilen sind einen Besuch wert.


Publikumsmagnet Tiger & Turtle -
Allerdings eher bei schönem Wetter ...

Wer mit einem Wohnmobil anreist, kann in Duisburg und Umgebung wochenlang Urlaub machen und wird am Ende immer noch nicht alles gesehen haben. Nicht nur das Zusammentreffen von Rhein und Ruhr, sondern auch die Seen in den verschiedenen Stadtteilen können Wasserfreunde begeistern.



Und was läuft nicht rund in Duisburg?


  • Die Pünktlichkeit der Busse und Bahnen der DVG (und der NIAG im Verbund) lässt absolut zu wünschen übrig. Das ist vollkommen unprofessionell und treibt nicht nur Pendler in den Wahnsinn.
  • Wer seinen Mut beweisen will, fährt mit dem Rad. Viele Radwege sind in grottenschlechtem Zustand und lebensgefährlich ist der Umgang der Duisburger Autofahrer mit Fahrradfahrern. Aber das lässt sich verbessern.
  • Die Homberger Hubbrücke und die Treppe an der Friedrich-Ebert-Brücke in Ruhrort sind für Jogger, Spaziergänger und Radfahrer zeitweise bzw. dauerhaft gesperrt. Das senkt den Freizeitwert!
  • Und: Es reimt sich eigentlich nichts auf Duisburg, so dass ich kein Gedicht auf die Stadt schreiben kann. Aber deshalb muss man den Namen nicht ändern.


Dienstag, 31. Oktober 2017


Von Duisburg nach Mafia Island


Begegnung mit einem Hai-Forscher






„Haie haben ein Image-Problem“, sagt Jens Paulsen. 
Der Homberger Meeresbiologe hat verblüffende Statistiken auf Lager: So werden mehr Leute durch Selfies verletzt, als durch Haie. Es gibt viel mehr Kuhangriffe auf Menschen, als Hai-Angriffe. Es ist sogar wahrscheinlicher, dass man von einem Menschen durch einen Biss verletzt wird, als von einem Hai. Seiner Meinung nach handelt es sich bei Unfällen mit Haien eher um Missverständnisse zwischen Mensch und Tier.

Jens Paulsens spezielles Interesse gilt allerdings dem größten Fisch unseres Planeten: dem Walhai. Diese bisher noch wenig erforschte Art ist bereits vom Aussterben bedroht.

Die nicht aggressiven Tiere hat er rund um eine kleine Insel studiert, die den kuriosen Namen „Mafia Island“ trägt und im indischen Ozean vor Tansania liegt.

Wie kommt man in einem Duisburger Stadtteil darauf, ausgerechnet Walhaie zu studieren? Die meisten Leute haben ja noch nicht einmal von den Riesen gehört.

 „Ich wusste irgendwie schon immer, dass ich Meeresbiologe werden will, aber so richtig auf Haie habe ich mich erst während meiner Bachelorarbeit in Südafrika eingeschossen. Dieses Land ist ein wahres Paradies für Haienthusiasten und nach einigen Tauchgängen mit verschiedensten Arten war es auch bereits um mich geschehen. Kurioserweise habe ich mir gedacht, warum arbeite ich nicht direkt mit dem größten Fisch der Welt? Und schon bin ich in der Walhaiforschung gelandet“, sagt er.

Mit seinen Studien möchte er dazu beitragen, dass die Art nicht nur überleben kann, sondern in ihrem Lebensraum nicht durch menschliches Einwirken, wie z.B. Fischerei und Tourismus, bedrängt wird. Seine Devise: „Man kann nur das effektiv schützen, was man auch kennt.“

Daher will der Wissenschaftler im Rahmen seiner Doktorarbeit eine Pilotstudie vor Mafia Island durchführen, um mehr Informationen über das Verhalten und die Lebensumstände der bedrohten Art zu erhalten.

Der technische Aufwand für das Forschungsprojekt ist beachtlich: Ein hoch empfindlicher Sensor wird - für das Tier schmerzlos - an der ersten Hinterflosse angebracht. Außerdem soll eine spezielle Unterwasserkamera zum Einsatz kommen.

Um die technische Ausrüstung anzubringen, muss man ganz nah ran an die Riesen. Ist so ein Walhai wirklich so ungefährlich? Ich stelle mir vor, dass ein Flossenschlag einen mehrere Kilometer weit durchs Meer befördern kann. Von Paulsens Ausbildung als Kung-Fu-Trainer lässt sich das Tier wohl kaum beeindrucken. 


„Walhaie sind mit die entspanntesten und friedfertigsten Tiere die ich je gesehen habe. Es ist eine wahre Freude mit diesen Tieren zu arbeiten. Dennoch gilt hier: Nur gucken - nicht anfassen!, denn Walhaie können auf Berührung teilweise sehr schreckhaft reagieren und beschleunigen dann ziemlich stark, um weg zu kommen. In diesem Prozess kann so eine Schwanzflosse ziemlich viel Wucht aufbauen und man möchte nicht zu nah dran sein. Aber mal ehrlich, ich lasse mich doch auch nicht gerne von Fremden auf der Straße anfassen, und den selben Respekt, den man von seinen Mitmenschen erwartet, sollte man auch diesen Tieren entgegenbringen“, erklärt er.

Eindrücke von seiner Arbeit mit den Walhaien gibt in einem kurzen Video.

Auch eine Drohne zum Zurückholen des Sensors wäre hilfreich, denn wer weiß schon im Vorhinein, wohin und wie weit ein Walhai schwimmt.

Wie schnell schwimmt so ein Gigant eigentlich? Im Video sieht es alles sehr gemütlich aus.

"Eine genaue Durchschnittsgeschwindigkeit ist schwer zu beziffern, aber um so einem Walhai auf der Spur zu bleiben, muss man schon schwimmerisch in Form sein und Flossen sind auch ein Muss. Sobald der Hai dann so richtig Gas gibt, wie z.B. beim Fressen, wird es selbst für uns Forscher schwierig, am Tier dranzubleiben. Da hilft dann nur ein wendiges Boot, welches das Team in gebührender Distanz vor dem Tier absetzt. Die Forschungsarbeit muss dann meistens innerhalb weniger Minuten ausgeführt werden", sagt der Forscher.

Er hat bereits viel eigenes Geld in sein Biologie-Studium an der Universität Bremen und die Arbeit in verschiedenen Meeren der Welt investiert. Um das Walhai-Projekt in vollem Umfang realisieren zu können, benötigt er jedoch finanzielle Unterstützung und sucht nach Spendern, auch über eine Crowd-Funding-Seite, auf der es detaillierte Informationen zum Projekt gibt.

"Natürlich erhalten Spender eine Spendenquittung", versichert er.

Eigentlich ist an ihm ein brillanter Lehrer verlorengegangen. Sein Studium absolvierte er in englischer Sprache und hielt Vorträge im In- und Ausland, wie z.B. in Quatar. Wenn er über sein Thema, die Meeresbiologie spricht, sieht man ihm seine Leidenschaft an. Sowohl Kinder als auch Erwachsene folgen gebannt seinen Ausführungen, wenn er über seine Erfahrungen mit den beeindruckenden Meereskolossen berichtet. Und nicht nur darüber spricht er gerne und geduldig. Arten- und Umweltschutz allgemein sind ihm ein großes Anliegen.

Da ich mich bekanntlich für Klitzekleine Kreaturen interessiere, die mit uns den Planeten teilen, die wir aber oft nicht wahrnehmen, habe ich Jens Paulsen Löcher in den Bauch gefragt. Geduldig hat er das erklärt, was in den zahlreichen Dokumentarfilmen immer nur im Zeitraffer gezeigt wird. So habe ich auch erfahren, dass das Etikett "Dolphin Safe" auf Fischkonserven eigentlich wenig Aussagekraft hat. Wichtig ist immer die Angabe der Fangmethode auf den Thunfisch-Dosen, 
denn wenn Thunfische mit Ringwadennetzen gefangen werden, befinden sich eben noch viele weitere Meerestiere im Netz, die dann auch getötet werden. Einige Produzenten von Dosen-Thunfisch geben die Fangmethode an, jedoch nicht die Hersteller von Katzenfutter. Man sollte dort einmal nachfragen.

Wie soll es weitergehen, wenn die Ergebnisse seiner Forschung vorliegen? Die Behörden vor Ort und die Vertreter der Fischerei- und Tourismusindustrie müssen an einen Tisch gebracht werden, um sicherzustellen, dass sowohl die Interessen der Walhaie als auch derjenigen, deren Lebensunterhalt vom Meer abhängig ist, in Einklang gebracht werden.

„Das wird nicht einfach werden“, sagt Jens Paulsen. „Diese wunderbaren Tiere brauchen allerdings Fürsprecher. Sonst gibt es sie bald nicht mehr. Wissen ist der Schlüssel zum Schutz dieser Tiere, denn obgleich es der größte Fisch der Welt ist, wissen wir lachhaft wenig über diese Tiere.“


Veggie Radio sendete am 25.08.2017 ein interessantes Interview mit Jens Paulsen.

Weitere Infos über Jens Paulsens Forschungsarbeit mit wunderschönen Fotos gibt es bei der KELLNER & STOLL - STIFTUNG


© Matilda Mench 2017


Montag, 25. September 2017

Berliner Bühne

Gestern im Wahllokal


"Mal eben kurz wählen gehen", ist nicht bei der Bundestagswahl 2017 nicht drin und die Stimmung ist entsprechend gereizt.

Sich ehrenamtlich als Wahlhelfer zu engagieren, würden die meisten sich nicht antun. Warum einen ganzen Tag und einen großen Teil des Abends mit einer langweiligen Tätigkeit verbringen, wenn man doch einen entspannten Sonntag verbringen kann? Ich wollte das einfach mal ausprobieren. Zu oft lässt man sich eine Erfahrung entgehen, weil man einfach glaubt, was andere zur Abschreckung erzählen. 

Also melde ich mich zur NRW-Landtagswahl 2017 an. Vorher noch kurz eine Video-Schulung machen und dann einfach um 7.30 Uhr zum zugewiesenen Wahllokal gehen. 

Ich kann das wirklich jedem empfehlen. Es gleicht einem  sozialen Experiment, wenn Menschen, die sich überhaupt nicht kennen, auf einmal zusammenarbeiten müssen. Aufgaben werden verteilt, die für einige vollkommen neu sind. Alle bemühen sich, eine angenehme Atmosphäre für die Wähler zu schaffen. Auf einmal muss man sich mit Schlangen-Management befassen und so mancher bemerkt, dass er eine natürliche Autorität besitzt, die von wildfremden Menschen anerkannt wird. Gerade bei der Auszählung arbeiten alle Hand in Hand, nicht nur, weil man die Nacht nicht im Wahllokal verbringen möchte. Wenn es hakt, darf jeder Vorschläge zur Problemlösung einbringen. Es ist gelebte Demokratie, die am Arbeitsplatz nicht möglich wäre, weil ständig eine(r) rumzickt.

Der Tag bei der Landtagswahl gefällt mir so gut, dass ich mich als Wahlhelferin für die Bundestagswahl 2017 zur Verfügung stelle. Erst nach meiner Zusage wird mir klar, dass es sich dieses Mal in Duisburg um drei Abstimmungen handeln wird: die "historische" Bundestagswahl, die Wahl des Duisburger Oberbürgermeisters und die Abstimmung um das Duisburger Outlet Center (DOC), das die Geschäfte in der Duisburger Innenstadt massiv beeinträchtigen würde. Alles viel komplizierter und zeitfressender als beim ersten Mal.

Es gibt zwei Wahlregister und drei Wahlurnen.  Auch Leute unter 18 Jahren dürfen an zwei der drei Abstimmungen teilnehmen. Die Medien haben das Thema Wahl bis zur letzten Minute gnadenlos ausgelutscht und somit ist die Wahlbeteiligung erfreulich hoch. Den ganzen Tag über ist volle Konzentration gefordert und abends stellt sich Heiserkeit ein.

Während im Ausland bereits digital abgestimmt wird, sind hier die Warteschlangen hausgemacht. Wartezeiten bis zu einer Stunde für die Ausübung ihres Wahlrechts sind die Deutschen nicht gewohnt. Als Wahlhelfer muss man sich einiges anhören. Aber sobald man den Leuten erklärt, dass auch wir ganz normale Leute aus der Bevölkerung sind, die ihre Freizeit opfert, damit andere ihr Wahlrecht ausüben können, sind die Leute auf einmal freundlich. Für das "Erfrischungsgeld", dass wir abends erhalten, würde niemand arbeiten. Der Stundenlohn läge unter Minijob-Niveau, rechnen sich manche aus.

Wie immer die Wahl ausgeht, es ist ein Sieg für die Demokratie, trösten wir die Wartenden. Der große Andrang ist ein gutes Zeichen. Endlich interessieren sich die Leute einmal für Politik.

Ein Problem – nicht nur für Leute mit Migrationshintergrund - stellt die Formulierung auf dem Stimmzettel zum DOC dar. Vermutlich ganz bewusst wird dem Wähler mehrfaches Durchlesen abverlangt, denn wer gegen das DOC stimmen will, muss "Ja" ankreuzen und wer dafür ist, muss mit "Nein" stimmen. Einigen fällt erst nach Einwurf des Stimmzettels auf, dass er eigentlich anders abstimmen wollte, den Text aber verkehrt verstanden hat.

In meinem Wahlbezirk leben Leute verschiedenster Nationen und so ist auch die Warteschlange bunt gemischt. Es fordert Stärke, entsprechend der Anweisungen nichts zu sagen, als ein Mann zu seiner kleinen Tochter laut hörbar sagt: "Du darfst auch wählen, denn du hast rein arisches Blut". Er steht direkt hinter Menschen mit Migrationshintergrund an. Mit wem wohnt man eigentlich hier zusammen?, schießt es mir durch den Kopf. Er ist ein Deutscher, der "sich traut", wie der Wahlslogan der AfD forderte. Zu einem netten Menschen macht ihn das nicht. Wo gehe ich nur hin, wenn hier nur noch solche rassistischen Idioten rumlaufen? 

Er traut sich mit seiner Aussage auch, Mut zur Wissenslücke zu zeigen. Ich überlege, ob ich ihn auf Mo Asumangs ausgezeichnete Dokumentation "Die Arier" hinweisen soll. Da kann man erstaunliche Dinge über Arier erfahren. Doch ich möchte nicht, dass es zur Konfrontation im Wahllokal kommt und die ganze Wahl deswegen wiederholt werden muss. Es ist ohnehin zu befürchten, dass man sich im Stadtteil noch öfter über den Weg läuft. Dann kann ich ihm das immer noch erzählen.

Noch bevor wir überhaupt mit dem Auszählen beginnen können, gibt es schon die ersten Hochrechnungen, die dunkle Zeiten prognostizierten. Und so ist es auch hier, die AfD hatte erschreckend mehr Stimmen bekommen, als ich erwartet hatte. Dafür sieht es für die NPD ganz mies aus. Ein Übel gräbt dem anderen das Wasser ab. Macht das einen Unterschied? 

Über die Anerkennung einiger Stimmzettel, mit denen für die AfD gestimmt wurde, muss abgestimmt werden. Sie sind vollgekritzelt oder haben viel zu viele Kreuze und was dem Ausfüller sonst noch lustig erschien. Wissen die Wähler mit ihrer Stammtisch-Weisheit einfach nicht, wie man einen Wahlzettel richtig ausfüllt oder war es Absicht, diese ungültig zu machen? Hier wird die demokratische Grundeinstellung der Wahlhelfer auf den Prüfstein gestellt. Über jeden dieser Wahlzettel wird abgestimmt und – auch wenn es weh tut – einige der Stimmen werden doch noch für gültig erklärt. 

Die NPD war mit einer Erzieherin zur Oberbürgermeisterwahl angetreten. Das Kopfkino, das die Auszählung dieser Stimmen auslöst, beschreibe ich hier lieber nicht. Ich verspüre den Drang, mir nach dem Berühren der Stimmzettel die Hände zu waschen.

Ist das überhaupt legal, wenn jemand mit dieser politischen Gesinnung einen solchen Beruf ausübt? Es ist doch absehbar, in welcher Richtung die Kinderlein geformt werden, hatte eine Wählerin den Stimmzettel kommentiert.

Spätabends ist es geschafft. Müde und besorgt schaut man sich die Sendungen zum Wahlausgang an. Ein versöhnlicher Gedanke: Wenn das alles Protestwähler waren, die für diesen Wahlausgang gesorgt haben, kommen die bei der nächsten Bundestagswahl wohl nicht mehr. Sie haben erreicht was sie wollen und werden nun schwer enttäuscht sein, wenn sie feststellen, dass sich nichts ändern wird. Allmählich wird  Begeisterung der AfD-Wähler nachlassen. 

Dabei darf man den Unterhaltungsfaktor der AfD nicht unterschätzen. Es wird lustig sein, wenn sich die auf dem politischen Parkett unerfahrenen Akteure selbst ins Aus manövrieren. Wir müssen jetzt nicht mehr in die USA schauen. Trump war gestern, was bei uns abgehen wird, übertrumpft alles. Was wird zwischen der FDP und den Grünen abgehen? Und was wird jetzt aus Bayern kommen? Comedians reiben sich wahrscheinlich schon die Hände, wenn sie an die endlose Flut von Material denken, die aus dem Bundestag kommen wird. Vorhang auf!


Nachtrag

Noch ein Wort zur aktuellen Reinwaschung der AfD-Wähler. Viele Medienvertreter, wenngleich früher als "Lügenpresse" verunglimpft, haben sich jetzt darauf eingeschossen, dass kaum einer von denen, die für die AfD gestimmt haben, Nazis oder Neonazis sind. Es seien Leute, die sich "vergessen" und "abgehängt" fühlen und in finanzieller Not seien. Ist ja dann nicht so schlimm, oder? Da kann man beruhigt schlafen gehen. Ich frage mich, wo fängt Nazi an?

Mir persönlich reicht schon der Satz, der einem immer wieder entgegenkommt: "Ich habe nichts gegen Ausländer, aber ...".

Das Wort "aber" ist für mich das Unwort der letzten Jahre. Auch ich bin von der wirtschaftlichen Lage und dem altersfeindlichen Arbeitsmarkt gebeutelt, wie jeder weiß, der "Befristet" gelesen hat. Trotzdem wäre es mir nie in den Sinn gekommen, eine rechtsorientierte Partei wie die AfD zu wählen. Auch mir ist es zu voll in Deutschland: Es tummeln sich zu viele Rechtspopulisten und Krawallmacher auf der Gegenseite in unserem Land. Vor allem aber sollten wir eine Obergrenze für Pöbler einführen.

Donnerstag, 31. August 2017

Ich will wieder - was Angela Merkel nach der verlorenen Bundestagswahl tun könnte

Angela Merkels Entscheidung, sich erneut der Wahl zur Bundeskanzlerin zu stellen, hat mich dazu animiert, eine Mikro-Fortsetzung von „Befristet - Eine Erzählung aus Deutschland“ zu schreiben:


Ich will wieder


Ich fahre schweißgebadet hoch. Ich bin in meinem Schlafzimmer. Nur langsam gibt mich mein Albtraum frei: Ich habe schon wieder geträumt, ich sei Angela Merkel.

„Ich will wieder.“ Das sage ich im November 2016 vor Millionen Deutschen in einer Talkshow. Drei klare Worte: „Ich will wieder.“ Ob mir damit auch wieder so ein Klassiker gelingt, wie „Wir schaffen das?“

Zeitlich passt mir eine weitere Amtszeit als Bundeskanzlerin ausgezeichnet. Danach kann ich direkt in Rente gehen. Es muss klappen! Wenn ich nicht gewählt werde, muss ich mir was einfallen lassen. Vier Jahre in meinem Alter zu überbrücken, ist nicht leicht. Zu alt und nicht mehr lukrativ als Arbeitskraft. Zu jung, um nichts mehr zu tun. Nein, die vier Jährchen nehme ich noch mit. Im Ruhestand kann ich dann nach Malle ziehen. Dort werde ich es krachen lassen: Ich werde einen veganen Kochkurs machen, Salsa tanzen lernen und eine neue Haarfarbe ausprobieren. Vielleicht lege ich mir ein Tattoo als Erinnerung an meine Zeit im Amt zu. Wie wäre es mit der Deutschlandflagge, wie sie sich über dem Reichstag im Wind schlängelt?

Ich meine tatsächlich, was ich sonst noch in der Talkshow sage: Ich will die Sorgen der Menschen wahrnehmen, die unter den Befristungen der Arbeitsplätze leiden müssen. Ich kann zwar nichts dagegen tun, aber ich werde dem Volk jetzt zuhören. Die Sorgen der Menschen wahrnehmen. Das wird das Volk besänftigen. Wahrnehmen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Bis ich zum Lösen der Probleme komme, ist meine Amtszeit dann sowieso um. Pech gehabt. Dumm gelaufen.

„Meine Politik passe ich der Wirklichkeit an“, sage ich. Durch geschickte Rhetorik werde ich mein Volk davon ablenken, zu hinterfragen, in wessen Amtszeit die befristeten Arbeits- und Werkverträge so in Mode kamen.

Dafür, dass es den meisten Rentnern finanziell nicht sonderlich gut geht, bin ich nicht verantwortlich. Den problematischen Anstieg der Lebenserwartung kann man mir nicht in die Schuhe schieben. Und für Pegida, AfD und Reichsbürger kann ich auch nichts.

Wieso regen die sich überhaupt alle so auf? Im Ausland bin ich eine Ikone. Ich halte die Welt zusammen und zuhause schimpfen sie auf mich.

Wenn die wüssten, wie anstrengend mein Job ist! Die kriegen überhaupt nicht mit, mit was man sich täglich rumschlagen muss. Lothar de Maizière hatte seinerzeit bei der Absage des Länderspiels in Hannover recht: Man muss die Bevölkerung vor zu viel Wissen schützen. Außerdem ist Wissen bekanntlich Macht und die sollte man mir nicht nehmen können.

Leider klappt es im Herbst 2017 nicht mit meiner Wiederwahl. Mein Volk will mich nicht wieder. Dafür bin ich selbst verantwortlich. Ich kann mich einfach nicht auf den Wahlkampf konzentrieren. Zu viel Ablenkung: Anschläge, nach denen ich dem Volk versichern muss, dass wir einfach so wie bisher weiter machen sollten. Plötzlich wählen die Amerikaner Donald Trump zum Präsidenten und der verbrüdert sich auch noch mit Putin. Natürlich muss ich mit dem französischen Präsidenten dagegenhalten. Immer wieder muss ich in die Türkei und Erdoan besänftigen, weil sich deutsche Comedians nicht beherrschen können. Und dann taucht auch noch Martin Schulz als Kanzlerkandidat auf!

Ich hätte noch rasch das Wahlrecht für Flüchtlinge einführen sollen. Das wären genau die Stimmen gewesen, die mir jetzt zum Wahlsieg fehlen. Früher warf man mir vor, ich sei kalt. Und dann zeige ich einmal eine warme Reaktion und lasse die Flüchtlinge rein und schon wieder ist es nicht recht. Na ja, so gehe ich wenigstens als „Kanzlerin der Barmherzigkeit“ in die Geschichte Deutschlands ein.

Professionelle Herren in grauen Anzügen geleiten mich durch den Hinterausgang des Kanzlerpalastes nach draußen. Vorne steht die Presse. Doch der kann ich mich jetzt nicht stellen. Wenn nur einer fragt: „Frau Merkel, was haben Sie denn jetzt vor?“, würde ich in Tränen ausbrechen.

„Bäckereiverkäuferin“, schlägt mein alter Freund Matthias vor, der sich mittlerweile für einen Mentor hält, weil ich oft seinen Rat brauche.
„Bäckereiverkäuferin?“, frage ich. „Da muss man doch mitten in der Nacht aufstehen.“ 
„Das packst du, Angie“, sagt er. „Früher bist du ja auch mit den Zeitverschiebungen klargekommen, wenn du Staatsbesuche im Ausland gemacht hast.“
„Das stimmt, aber das war ja auch immer nur für kurze Zeit.“
„Genau. Die Regelmäßigkeit wird es einfacher machen. Und, ganz wichtig: Diese Branche diskriminiert nicht aufgrund des Alters. Die Fluktuation beim Personal ist so groß, dass die einfach jede nehmen.“
„Sogar mich?“
„Sogar dich. Und noch einen Vorteil hat der Job.“
„Dass ich umsonst jede Menge Torten futtern darf? Das ist kein Vorteil. Ich werde platzen.“
„Nein, die Arbeitskleidung. Die wird gestellt und du brauchst dir morgens keinen Kopf darüber machen, ob du nun einen dunklen oder hellen Kurzblazer anziehst.“
Das überzeugt mich, denn ich stehe nicht gerne vor dem Spiegel. Make-up und komplizierte Frisuren sind nicht mein Ding.

Ich überfliege die Kleinanzeigen in der Lokalzeitung und werde fündig. „Bäckereiverkäuferin in Teilzeit gesucht“ steht da. Mehr als eine Handynummer steht nicht dabei. Ich rufe an und soll gleich vorbeikommen.

Beim Vorstellungsgespräch herrscht klare Ansage. „Zwei Tage Probearbeiten. Unbezahlt“, dringt es durch den dicken Zigarettenrauch im Mini-Büro zu mir. „Wenn Sie geeignet sind, machen wir einen Vertrag.“
„Ab wann denn?“, frage ich. 
„Ab nächsten Monat, vorher kommen Sie noch ein paar Mal vorbei, um sich einzuarbeiten.“
Meine Kehle ist ganz trocken, als ich schlucke. „Sie meinen, ich soll schon vor Vertragsbeginn regelmäßig arbeiten?“ 
„Oder möchten Sie lieber alleine dastehen? Es ist besser, Sie kennen sich aus, bevor Sie den Laden schmeißen müssen“, kommt es durch die Rauchwolke zurück.

Ich fahre mit dem Bus zur Filiale. Ich setze mich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung auf einen Viererplatz. Mir gegenüber sitzen zwei Jugendliche. Geschwister, wie ich gleich herausfinden werde. Der Junge ist im Sitz nach unten gerutscht. Sein Kopf ruht auf der Kapuze seines Anoraks. Er döst. Plötzlich zieht eine ältere Frau mit Pelzmütze von hinten fest an seiner Kapuze. Verwirrt dreht er sich um.
„Setzen Sie sich mal gerade hin, junger Mann!“, sagt sie. „Und nehmen Sie die Kapuze ab! Vermummung mögen wir in diesem Land nicht.“ 
Seine Schwester dreht sich auch um und sagt in akzentfreiem Deutsch: „Lassen Sie meinen Bruder in Ruhe. Er hat überhaupt nichts gemacht.“

Im vollbesetzten Bus ist es ganz still. Mir bleibt zunächst die Luft weg. Darf man sich so was mittlerweile in diesem Land erlauben? Da muss man doch gegenhalten, denke ich und sage zu der Frau: „Das ist doch unglaublich! Er ist weder vermummt, noch hat er etwas getan. Sie tragen doch auch eine Kopfbedeckung.“

Eine Frau schräg gegenüber mischt sich ein: „Genau. Und dazu noch mit Echtpelz. Sie tragen ein totes Tier auf dem Kopf. Pelz mögen wir in diesem Land auch nicht!“

Wir nicken uns zufrieden zu. Die ältere Frau hat sichtlich nicht mit einer Reaktion gerechnet und geht zur Tür. Bevor sie aussteigt, dreht sie sich zu uns um und schaut ratlos.
„Viel Spaß in der Hölle“, rufe ich ihr noch zu. Mann, tut das gut! Als Bundeskanzlerin hätte ich mir das nicht erlauben können.



Das Probearbeiten läuft besser als gedacht. Ich fühle mich hier wohI. Ob das der Geruch nach warmen Hefegebäck macht, der mir das Geborgenheitsgefühl der Kindheit gibt? Die Kolleginnen sind nett, aber ich bin vorsichtig. Von meinem Vorleben erzähle ich nichts. Ich möchte nicht, dass die Kolleginnen sich gleich gegen mich verbünden, weil sie meinen, dass ich eine bessere Bildung habe.

„Schon wieder ein neues Gesicht!“, stöhnen manche Kunden.
Ich versuche, das Eis mit einem Scherz zu brechen: „Von mir dürfen Sie freundliche Inkompetenz erwarten.“
Leider versteht kaum jemand die Ironie und nach einigen Stunden streiche ich den Satz aus meinem Repertoire.

Die Zeit vergeht schnell. Ich darf den Backofen bestücken, Kunden bedienen, Brötchen schmieren, spülen und die Personaltoilette putzen. Meine Füße tun vom langen Stehen höllisch weh, aber die Tatsache, dass ich heute gut genug war, um morgen den zweiten Probetag absolvieren zu dürfen, lässt mich den Schmerz ertragen.

Am nächsten Tag werde ich noch mehr gefordert: Ich soll mir die einzelnen Preise merken. Dann kann ich den Gesamtpreis im Kopf ausrechnen, bevor ich mich durch den Tasten-Dschungel der neuen Computerkasse durchgewühlt habe. Stammkunden wissen ohnehin, was sie bezahlen müssen und halten das Geld bereits abgezählt in der Hand. Ich soll sie nicht mit dem Drücken der Zwischensummentaste aufhalten, sondern gleich das Geld nehmen, damit sie gehen können. Einbongen kann ich ja hinterher. Natürlich vergessen meine Kollegin und ich in der Hektik, was die Kunden gekauft haben und haben am Ende zu viel Geld in der Kasse. Aber zu viel ist besser, als zuwenig.

Wir dürfen nichts kostenlos essen oder trinken, auch wenn es noch so lecker riecht. Wir sollen 50 % zahlen und den Bon unterschreiben lassen. Somit werde ich nicht zunehmen, denn die Hälfte von irgendeinem Gebäckstück ist immer noch zu viel für mein Budget. Auch nach Ladenschluss dürfen uns nichts mitnehmen, obwohl fast alles in die Mülltonne wandert.

Ich komme noch eine Woche umsonst zum Arbeiten, damit ich an meinem ersten bezahlten Tag alles drauf habe. Vorher muss ich noch einmal ins Büro kommen. Ich muss meine Belehrung vom Gesundheitsamt abgeben, für die ich privat 30 Euro bezahlen musste. Außerdem soll ich unbedingt eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreiben. Ohne die gibt es keinen Job. Ich überlege, was es denn so Vertrauliches in einer Bäckereifiliale geben kann: Dass Brötchen, die auf dem Boden landen, sofort wieder in den Verkauf kommen, sobald der Kunde den Laden verlassen hat? Die geheimen Rezepte der fertigen Backmischungen, die als handwerkliche Eigenkreation ausgegeben werden? Ehe ich zu einem Ergebnis komme, werden mir eine Mülltüte mit Arbeitskleidung und ein Schlüssel in die Hand gedrückt.

Zuhause stelle ich fest, dass die Klamotten mehr als gut gebraucht sind. Die von mir angegebene Größe ist stark eingelaufen und verzogen. An einigen Stellen sind kleine Löcher. Die Kragenecken sind wie von einem Bügeleisen verbrannt. In dem Aufzug soll ich den Kunden gegenüber treten? Textmarkerorange ist sowieso nicht meine Farbe.

Jeder Arbeitstag beginnt mit dem Auspacken der Tageszeitungen. Eigentlich bräuchten wir nur die BILD, denn die anderen verkaufen sich selten. Die großen Überschriften und Fotos veranlassen die Kunden grundsätzlich zu einem Kommentar darüber, wie schlecht die Welt ist. Wenigstens bin ich jetzt nicht mehr auf der Titelseite. 

Trotzdem fliegt meine Deckung beinahe auf. „Irgendwo her kenne ich Sie“, sagt eine Kundin. „Aber woher nur?“
„Tut mir leid, aber ich kann mich an Sie überhaupt nicht erinnern“, sage ich. „Vielleicht verwechseln Sie mich mit jemandem?“
„Da können Sie recht haben“, sagt die Kundin. „Sie sehen Angel Merkel sehr ähnlich“.
Ich sage nichts, weshalb die Kundin hinzufügt: „Sie wissen doch, unsere ehemalige Bundeskanzlerin. Hat man Sie noch nie auf die Ähnlichkeit angesprochen?“
„Nein, bisher nicht. Möchten Sie das Brot geschnitten oder am Stück?“
„Geschnitten bitte“, sagt sie und damit ist das Thema zum Glück erledigt.

Wenn die sich nicht zu schade ist, in einer Bäckerei zu arbeiten, ist sie für dieses Land richtig, würde so manch einer sagen. Diese Volksnähe gefällt den Wählern. Wenn ich nur früher daran gedacht hätte! Im Sommerurlaub nicht faulenzen, sondern in einer Bäckerei arbeiten. Dann hätten sie mich im September 2017 vielleicht gewählt, überlege ich, als die Kundin den Laden verlässt.

Zu Matthias sage ich: „Ich verstehe nicht, wieso Bäckereiverkäuferinnen so ein miserables Image haben. Die arbeiten nicht dort, weil sie irgendwie unterbelichtet sind. Die können dort arbeiten, weil sie fit genug und motiviert sind. Was der Kunde, der morgens schon früh in den Laden drängt, gerne übersieht, ist, dass die Frau hinter der Theke bereits seit Stunden körperliche Hochleistungen erbracht hat, damit die Auslagen und Regale pünktlich eingeräumt sind.“

Er winkt ab: „Das ist eben so in den Köpfen drin. Das wirst du nicht ändern, Angie.“

Doch ich möchte unbedingt etwas zur Imageverbesserung der Bäckereiverkäuferinnen tun. Es ist schließlich nicht nur ein Knochenjob, sondern man benötigt auch eine gewisse Expertise. Zum Beispiel die Brötchen: Das Backen ist viel komplizierter, als mal eben ein paar Rohlinge in den Ofen zu knallen und einen mit einem Bild hinterlegten Knopf zu drücken. Der Ofen ist ein spuckendes und fauchendes Ungetüm, an dem man sich leicht verletzen kann. Nach kurzer Zeit sehen meine Unterarme durch die Brandnarben so aus, als ob ich mich geritzt hätte.


Die Rohlinge erweisen sich als wahrhafte Sensibelchen. Der Teig ist sehr empfindlich und reagiert immer anders. Wenn es kalt ist oder der Bäckereifahrer die Rohlinge nachts um drei ins Kühlhaus gestellt hat, geht der Teig nicht auf und die Brötchen bleiben klein wie Walnüsse. Also müssen sie in den Gärofen, wo es kuschelig warm und feucht ist. Wie zur Monsoon-Zeit in Asien, aber eben ohne Regen. Leider scheint es keine Regel zu geben, wie lange sie dort bei welcher Temperatur bleiben müssen, bevor man sie drehen kann. Man muss also immer mal nachschauen, damit die Brötchen nicht explodieren. Sind sie zu groß, liegen sie zu dicht aneinander und backen zusammen. Wenn man sie dann auseinanderreißt, ist die Kruste beschädigt. Das Drehen selbst ist auch nicht einfach. Dabei werden die Brötchen von den Plastikdielen auf Bleche transportiert. Man muss das ganz flott machen, sonst rutschen die Brötchen alle in eine Ecke oder liegen nicht mit der Sollbruchstelle nach oben. Per Hand drehen und verschieben ist auch keine gute Idee, denn dann verlieren sie ihre Form. Manchmal müssen sie mit einem kleinen Messer nachgeritzt werden, damit die Kerbe entsteht. Und alles das muss man rechtzeitig vor Ladenöffnung schaffen. Natürlich ist man um die Zeit noch sehr müde und vergisst schon einmal, die Taste am Ofen zu drücken, wenn man die Bleche hineingeschoben hat. Dann kann man die Brötchen wegwerfen. Sie backen nicht richtig durch und bekommen weder die typische Farbe noch den Glanz. Das ist eine Katastrophe, denn in der Regel erwischt es nicht nur ein Blech, sondern gleich vier oder fünf. Wo bekommt man dann Ersatz her? Und erst der Ärger mit dem Chef! 

Dessen Zorn zieht man sich auch zu, wenn ein Kunde eine bestimmte Torte bestellt hat, die nicht geliefert wurde. Die Fahrer liefern manchmal in die falsche Filiale. Hier fehlt etwas, dort gibt es viel zu viel davon. Glücklicherweise ist es erlaubt, den Austausch mit Eigeninitiative und Privatautos gerade noch rechtzeitig zu organisieren.


Beim Tortensetzen stoße ich an meine Grenzen. Die Tortenstücke müssen gleichmäßig geschnitten werden. Dann wird ein transparenter Folienstreifen um sie herumdrapiert, damit sie sich auf der Platte nicht berühren. Das Stück Rhabarberkuchen könnte sonst von einem Hauch Buttercreme kontaminiert werden oder gar von einer Erdeere. Für diese Arbeit braucht man eine ruhige Hand. Die habe ich einfach nicht, wenn der Laden voll ist. Die Tortenstücke fallen mir um oder der Boden springt beim Schneiden in kleine Stücke. Wie macht es meine Kollegin nur, dass sie keine sahnigen und klebrigen Finger hat? Wenn der Kunde dann noch auf alle Stücke einen Sahneklecks möchte, steigt mein Adrenalin. Ich kriege es einfach nicht hin, der Sahnemaschine einen perfekt aussehenden Klecks abzuringen, der noch dazu genau der Gewichtsangabe für eine Portion entspricht. Oft sehe ich, dass meine Kollegin mich aus den Augenwinkeln heraus beobachtet. Sie sagt zwar nichts, aber ich weiß, dass sie meint, ich sei ein Volltrottel.


Dann muss das Kunstwerk auch noch verpackt werden. Dazu reißt man das Papier von einer Rolle ab. Ich habe noch keinen Blick dafür, welche Länge ich abreißen muss und fürchte immer, dass ich den Sahneklecks beim Einpacken zerdetsche. Schleichend stellt sich bei mir eine Torten-Phobie ein. Nie wieder kann mich der Anblick eines Stücks Torte in Versuchung führen. Ich empfehle unentschlossenen Kunden grundsätzlich Blechkuchen. Da kann nichts schiefgehen. Bienenstich, gedeckter Apfelkuchen und Käse-Sahne schmecken ja auch gut. Zu meiner Erleichterung bevorzugt die jüngere Generation ohnehin Donuts und Cup Cakes, die man einfach in eine Tüte stopfen kann.

An meinem ersten Arbeitstag als Einzelkämpferin bekomme ích gleich früh einen Kontrollanruf von der Filialleitung. „Wie läuft’s?“, werde ich gefragt. Es würde besser laufen, wenn ich nicht mit einem Telefonhörer in der Hand Waren ausräumen müsste, denke ich, gebe mich aber freundlich.


Ein Schweißausbruch geht in den nächsten über. Nicht nur weil es draußen schon am frühen Morgen heiß ist und der Backofen nicht zur Abkühlung beiträgt. Wie viele Fragen da noch sind, wenn man auf einmal alleine ist. Und wieso haben alle Kunden Extrawünsche? „Drei helle Brötchen bitte“, „vier dunkle Brötchen“, „können Sie die Kruste abschneiden?“, „bitte möglichst dick schneiden“, „dünn geschnitten, bitte“, „können Sie das Brot längs in Scheiben schneiden?“, „eine Butterlaugenecke mit Remoulade und Salami, aber ohne Grünzeugs“. So geht es den ganzen Tag. Kurz vor Ladenschluss fragt dann jemand: „Haben Sie warme Brötchen?“

Wirklich wichtige Fragen wie: „Ist das Brot von heute?“, „ist der Salat gewaschen?“, oder „ist in der Putensalami wirklich nur Pute oder doch auch Schweinefleisch?“, stellt zum Glück keiner, denn ich würde ungern lügen müssen.

Manche Kunden regen sich darüber auf, dass das Personal keine Handschuhe trägt. Andere wieder stört die Plastiktüte, die ich mir in Sekundenschnelle über die Hand stülpe, wenn ich Backwaren anfasse und die ich wieder abstreife, wenn ich die Kasse bediene.

Es gibt auch nette Bemerkungen: „Wie süß, Sie sind ja ganz mit Mehl bestäubt“, sagt eine Kundin.

Die ersten anderthalb Stunden eines jeden Tages arbeite ich unbezahlt. Erst wenn der Laden aufmacht, gibt es Lohn. Doch die Kunden drängen schon ins Geschäft, sobald sie Licht sehen, egal, ob die Regale und Vitrinen befüllt sind, oder nicht. „Wenn Sie sowieso schon da sind, können Sie auch ruhig Umsatz machen“, meint der Chef.

Täglich 90 Minuten unbezahlter Arbeit lassen den Mindestlohn ins Unendliche nach unten purzeln, überlege ich. Würde ich mehr Lohn bekommen, wenn ich ein Mann wäre? Wo kann ich das erfahren?

Auch in der Nachmittagsschicht darf ich nach Ladenschluss unbezahlt arbeiten. Unter dem Gesichtspunkt, dass Bewegung gesund ist, rotiere ich gerne durch den Laden, packe alle Torten und Gebäcksstücke um, renne zig Mal ins Kühlhaus, fülle Körbe mit abgeschriebenen Broten und Brötchen, zermatsche übrig gebliebene Rohlinge, wische die Regale und Theken aus, spüle, kehre den Boden und wimmele freundlich die Kunden ab, die noch an die Tür klopfen. Dann kommt die Kassenabrechnung, die Bestellungen werden durchgegeben und schon beginnt die Freizeit. Die fängt in der Regel mit einem Sprint zur Toilette an, denn wenn ich alleine arbeitee, darf ich den Laden nicht verlassen.

Zuhause ist man weiterhin im Dienst. Man schaut einen „Tatort“ an und da kommt ein Anruf, dass man morgens gleich früh diverse Platten mit vier Sorten Blechkuchen in einer speziellen Reihenfolge setzen muss. Die großen Stücke müssen halbiert und versetzt auf der Platte verteilt werden. Das sieht nach mehr aus. So spart der Beerdigungsunternehmer, der schon kurz vor Geschäftsöffnung kommt, Geld. Oder man muss früher kommen, weil 50 belegte Brötchen bestellt sind. Selbstverständlich muss man die vorher nicht nur schmieren, sondern auch noch backen.

Ich merke, dass die Konkurrenz der Billigbäcker und die Demografie die Filiale hart treffen. Wöchentlich sterben Stammkunden weg. Die Öffnungszeiten werden reduziert. Ohne Rücksicht auf bereits bestehende Schicht- und Urlaubspläne werden Stunden gestrichen. Die Belegschaft regt sich zwar auf, redet aber immer nur untereinander. Mit dem Chef spricht niemand. Ich rege an, dass sie sich an die Öffentlichkeit wenden sollen. Warum nicht einen Politiker finden, der sich ihrer Sache annimmt? „Angie, du glaubst doch nicht, dass die in der Politik sich für uns interessieren? Die haben doch ausgesorgt“, sagt ein Kollege.
Na ja, mir kann es egal sein, denke ich. Ich mache das hier nur vier Jahre. 

Die drei Monate Probezeit vergehen rasch. Dass ich übernommen werde, erwähnt niemand. Mir fällt eines Morgens auf, dass ich an der Kasse jetzt nicht mehr die Aushilfentaste drücken muss, sondern dass eine der Bedienertasten jetzt mit meinem Namen hinterlegt ist. Ich freue mich still. Ich habe es gepackt und mir nebenbei eine neue Qualifikation erworben!

Im Laufe der Zeit stelle ich fest, dass eine Bäckereiverkäuferin auch als Seelsorgerin fungieren muss. Nicht nur für die Kolleginnen, die auch nicht erwartet hatten, in ihrem Alter noch so hart arbeiten zu müssen. Auch die Kunden schütten gerne ihr Herz aus. Ich muss mir merken, wer gerade eine Chemotherapie macht, wessen Bruder oder Schwester gerade im Altersheim verstorben ist, wer gerade eine Erkältung hat und wessen Hund dringend operiert werden muss.

Ich beobachte, dass junge Leute grundsätzlich mit Scheinen bezahlen, während sich Kunden mittleren und höheren Alters die Zeit nehmen, genüsslich Ein- und Zwei-Cent-Stücke aus dem kleinen Portemonnaie herauszusuchen. Sie sind überzeugt, dass eine Bäckerei Kleingeld braucht, und dass sie uns einen Gefallen tun. Manch einer hat sogar einen Behälter dabei, in dem er Kleingeld gesammelt hat. Ich lächele geduldig, während sich hinter dem suchenden und zählenden Kunden eine Schlange bildet.

Ich lächele auch, wenn die Stammkunden jeden Tag zur gleichen Zeit genau die gleiche Anzahl der gleichen Brötchen kaufen. Das Ritual gebietet, dass ich ihre Wünsche erst erfrage, obwohl ich ihnen bei Betreten des Ladens bereits die volle Tüte entgegenhalten könnte. 

Ab und zu wird die erstickende Vorhersehbarkeit auf erfrischende Weise unterbrochen. Immer wieder kommen Kunden, die eine Geburtstagstorte bestellen, die nach ihren Wünschen dekoriert werden soll. Ich notiere alle möglichen Sprüche und die korrekte Schreibweise der Vornamen für den Konditormeister. Als mir jedoch eine Frau diktiert: „Happy Birthday, Adolf“, stoppt mein Stift auf dem Zettel. Ich werfe einen kurzen Blick auf sie, dann in den Kalender. Nein, das Datum ist nicht das Geburtstagsdatum des Führers. Es handelt sich lediglich um einen armen Menschen, der sein ganzes Leben mit diesem Vornamen herumlaufen muss. Die Wahl von Vornamen unterliegen Modetrends, überlege ich später. Ob dieser Vorname jemals wieder in Mode kommen wird? Oder gibt es ein Gesetz, das diesen Namen untersagt und Standesbeamte dazu berechtigt, den Namenswunsch abzulehnen? Man könnte ihn auch mit „ph“ am Ende schreiben. Dann wäre der Namen amerikanisiert und keiner hätte ein Problem damit, oder? 

Für eine Betriebsfeier bestellt ein Mann sechs riesige Nikoläuse. Es sollen jeweils drei Paare sein. „Mann und Frau?“, frage ich und er schaut mich verständnislos an. Ich notiere die Bestellung und erwarte automatisch, dass die Nikoläusinnen einen Rock tragen werden, um sie von ihren Männern unterscheidbar zu machen. Am nächsten Tag lädt der Fahrer fröhlich pfeifend die großen Bleche aus. „Der Chef war kreativ“, sagt er. Ich unterbreche meine Rennerei und schaue mir die Nikoläuse an. „Das kann man doch nicht verkaufen“, sage ich. „Das ist ja widerlich!“ Die Nikoläuse sind nackt. Zwecks Unterscheidung haben sie üppige Geschlechtsteile. Die Brüste der Nikoläusinnen sind mit einer knallroten Kirsche garniert. „Ich weiß, was ich zuerst abbeißen würde“, sagt eine Rentnerin, als ich dem Abholer helfe, die Bleche im Auto zu verstauen.

Das Verhalten der Kunden lässt sich überhaupt nicht einschätzen. Obwohl sich niemand im Vorfeld abspricht, wollen häufig alle das Gleiche. Muss man an einem Morgen Unmengen von Croissants nachbacken, weil keiner Brötchen oder Laugenstangen will, werden die Croissants am nächsten Morgen global verschmäht, weil alle Laugenstangen wollen. Die Bestellung für den nächsten Tag zu machen, ist wie Zocken. 

Warum kommen die Kunden an manchen Tagen einer nach dem anderen in den Laden, so dass man einen nicht abreißenden Strom von Kundschaft hat? Wieso kommen sie an anderen Tagen nur in Gruppen, obwohl sie sich nicht kennen und sich nicht abgesprochen haben? Entweder fünf gleichzeitig mit Sonderwünschen oder lange Zeit niemand. Als gelernte Wissenschaftlerin versuche ich, herauszufinden, welchen Regeln diese Gruppen-Dynamik folgt. Doch ich komme auf keine Formel.

Vielleicht liegt das auch daran, dass ich einfach vollkommen übermüdet bin. Meine Haare und die Haut unter den Augen hängen kraftlos herab. Zuhause verlieren sogar die Plastikblumen die Blätter. Seit ich mitten in der Nacht aufstehen muss, weiß ich, dass meine Nachbarn ein unsoziales Pack sind. Sie nehmen keine Rücksicht auf die arbeitende Bevölkerung und machen jeden Abend Party. Ich möchte zurückschlagen und morgens richtig laut sein, wenn sie schlafen. Ich könnte zum Beispiel bei offener Badezimmertür duschen. Der Wasserdampf löst den Rauchmelder aus, den ein genialer Handwerker direkt vor dem Badezimmer installiert hat. Oder ich könnte meine Wohnungstür zuschlagen und mit Leergut durch das Treppenhaus poltern. Warum nicht Klingelmännchen spielen? Ich mache nichts davon. Als Kind wurde mir eingetrichtert, dass man auch die andere Wange hinhalten soll. Soweit möchte ich zwar nicht unbedingt gehen, aber wenn ich morgens zu viel Energie in mein Racheprojekt stecke, kann ich mich nicht mehr richtig auf die Kasse konzentrieren und muss draufzahlen.

Mein letzter Tag. Ab jetzt bin ich im Ruhestand. Ich gebe den Schlüssel ab und gehe mit meinem Rollkoffer zur Bushaltestelle. Dort wartet auch ein Entenpaar auf den Bus. Ich finde das lustig. Für die übrigen Leute scheint es Alltag zu sein, denn außer mir lacht keiner. Als der Niederflurbus kommt, watscheln die Enten zur hinteren Tür. Sie warten, bis die Dame mit dem Rollator ausgestiegen ist und steigen ein. Wohin sie wohl fahren, frage ich mich. Doch ich verfolge den Gedanken nicht weiter. Ich fahre zum Flughafen.

© Matilda Mench 2017


Dienstag, 8. August 2017


Vermüllung der Gewässer - bei Kindern fantasievoll ein Bewusstsein für Umweltschutz erwecken



Derzeit kann man sich einer Diskussion über die Vermüllung der Meere und Flüsse nicht mehr entziehen. Ich finde es erfreulich, dass dieses Thema endlich im Bewusstsein der Allgemeinheit angekommen ist. Hoffentlich trägt das zu einer Verbesserung für die tierischen und pflanzlichen Wasserbewohner bei. Mich beschäftigt das Thema schon lange, denn auch an Traumstränden waren die im Wasser dümpelnden Plastikprodukte nicht zu übersehen. Im Sommer 2016 schrieb ich diese Geschichte zum Vorlesen oder für kleine Selbstleser:


Seenot


Spiegeleiqualle
Spiegeleiqualle

Die glänzenden kleinen Fische schießen durch das Wasser. Hoch und runter und um einen Stein herum. Hektisch sehen sie sich immer wieder nach etwas um, das wie eine riesige dunkle Wolke aussieht. Es ist ein Schwarm von großen Fischen, der immer näher kommt. Ängstlich suchen die Fischlein nach einem Versteck. Doch hier gibt es weder Felsen noch Seegras. Starr vor Schreck bleiben sie auf der Stelle stehen. „Wir werden sterben“, jammert einer.
„Die haben fast unsere ganze Familie gefressen. Jetzt holen sie sich den Rest“, heult ein anderer.
Plötzlich wird etwas über sie gestülpt. „Was ist denn das?“, schreit einer.
„Ist das schon das Ende?“, ruft ein anderes Fischlein. “Ist das ein Schirm? Oder eine Glocke?“
„Ihr müsst keine Angst haben“, sagt eine wunderschöne Stimme. „Ich fresse euch nicht.“
„Wer bist du?“, ruft ein Fischlein.
„Ich bin eine Qualle.“
Die Fischlein sehen sich erstaunt an. Dann rufen sie im Chor: „Wie eklig!“
„Quallen sind doch giftig“, sagt ein Fischlein und schwimmt von der Außenwand weg zur Mitte der Glocke.
„Ich habe mich über euch gestülpt, um euch zu schützen. Die großen Fische haben Angst vor meinem Gift.“
„Wieso sollen wir dir glauben?“, fragt das größte Fischlein und schwimmt vor seine Freunde. "Wir kennen dich nicht."
„Bist du der Anführer?“, fragt die Qualle.
Das Fischlein dreht sich zu den anderen um. „Bin ich euer Anführer?“
Alle nicken.
„Also gut, ich bin der Anführer.“
„Wie heißt du denn?“ fragt die Qualle.
„Glitter.“
„Das ist ein schöner Name. Der passt gut zu dir.“
„Und du, wie heißt du?“
„Wir Quallen haben keine Namen. Wir haben ja nicht einmal ein Gehirn. Wie also sollen wir uns unsere Namen merken?“
„Haben Fische ein Gehirn?“
„Kannst du dir deinen Namen merken oder nicht? Kannst du. Also hast du ein Gehirn. Ein ganz kleines allerdings.“
„Wie lange müssen wir denn in dir bleiben?“, fragt Glitter.
„Bis die großen Fische weg sind.“
„Ich kann hier gar nichts sehen. Alles ist so glibberig. Woher weiß ich, dass du uns die Wahrheit sagst? Vielleicht sind sie längst weg und du willst uns selber fressen.“
„Seht ihr die lila Punkte am Ende meiner Tentakel?“
„Tenta was?“, fragt Glitter.
„Tentakel. Das sind meine Fangarme.“
„Fangarme? So wie bei einem Tintenfisch? Bei dir sind es bloß ganz viele dünne Fangfäden.“
„Du bist ganz schön unhöflich, mein Kleiner! Passt auf: Wenn ihr bis zu den lila Punkten vorschwimmt, könnt ihr nach draußen sehen, aber die Raubfische kommen nicht an euch heran. Sie denken, dass ich mein Gift herausschleudere und halten Abstand.“
Glitter macht seinen Freunden ein Zeichen, damit sie ihm folgen. Vorsichtig schwimmen sie in die Tentakel, die mit den Bewegungen der Qualle hin- und herpendeln.
„Das ist ja ein richtiger Dschungel hier. Kaum ein Durchkommen“, sagt ein ganz kleiner Fisch.
„Nun beschwer‘ dich noch, du Zwerg“, sagt die Qualle.
„Ich habe auch einen Namen. Ich heiße Glimmer.“
„Na, ob ich mir das alles merken kann?“, murmelt die Qualle.
„Wo schwimmst du mit uns hin?“, fragt Glimmer.
„Keine Ahnung! Müsst ihr irgendwo hin?“
„Nein, nur weg von hier.“
Die Fischlein schwimmen tiefer in die Qualle hinein.
„Und schon geht es los!“, ruft sie fröhlich.
Gleichmäßig zieht sich ihr Körper zusammen und entspannt sich wieder, als sie langsam durch das Meer gleitet.
„Das nennt die schwimmen?“, motzen die Fischlein. „Kein Wunder, dass es so langsam vorangeht.“
„Auch noch Ansprüche stellen, ihr undankbaren Winzlinge“, sagt die Qualle. „Ich bin zwar keine Ohrenqualle, aber das habe ich trotzdem gehört.“
Die Fischlein schwimmen auseinander. Sie verständigen sich nur noch mit Zeichensprache.
Auf einmal bleibt die Qualle stehen. „Pause, Jungs! Hier sind wir sicher. Wir haben sie abgehängt. Ihr könnt ausschwärmen.“
Vorsichtig schwimmt Glitter zu den lila Punkten, um zu sehen, ob die Qualle die Wahrheit gesagt hat. Doch Glimmer schießt an ihm vorbei nach draußen. Er umrundet die Qualle und betrachtet sie mit großen Augen. Dann hält er sich mit den Flossen den Bauch vor Lachen.
„Was ist denn so lustig?“ fragt Glitter.
„Wir reisen in einem Spiegelei!“
„Ein Spiegelei?“
„Die Qualle sieht wie ein Spiegelei aus. Ist das komisch!“, lacht Glimmer. „Kommt alle raus und seht selbst!“
Neugierig schwimmen die Fischlein zu ihrem Freund. Einer nach dem anderen fängt zu lachen an.
„Lacht ihr über mich?“, fragt die Qualle.
„Du siehst aus wie ein Spiegelei“, sagt Glitter.
„Na und?“, antwortet die Qualle kühl. „Ich bin schließlich eine Spiegeleiqualle. Wieso sollte ich nicht so aussehen?“
„Entschuldige bitte, die Jungs sind ein wenig albern. Sie sind noch so unerfahren und haben noch nicht viel von der Welt gesehen. Und ganz bestimmt keine Spiegeleiqualle.“
„Ich muss jetzt etwas essen“, sagt die Qualle. „Ihr könnt mitessen. Hier gibt es genug Plankton für uns alle.“
Die Fische und die Qualle beginnen mit dem Essen. Auf einmal fällt ein Schatten über die kleine Gruppe. Alle schauen nach oben.
„Ein Mondfisch!“, schreit die Qualle.
„Und?“, fragt Glitter.
„Der will mich fressen“, ruft die Qualle. „Los, steigt ein!“
Die Fischlein schwimmen zurück in die Glocke und die Qualle schwimmt los. Sie gleitet so schnell sie kann durch den Ozean, doch der große Schatten lässt sich nicht abhängen. Er bleibt die ganze Zeit über ihr.
„Kannst du ihn nicht vergiften?“, ruft Glimmer.
„Nein, das Gift an meinen Fangarmen macht ihm nichts.“
„Aber er hat doch keine Schuppen.“
„Ein Fisch ohne Schuppen?“, fragt ein dickes Fischlein. „Gibt es das?“
„Ja, er hat eine ganz dicke Haut. Wie Leder. Da geht nichts durch.“
Auf einmal gibt es einen Ruck und es wird dunkel. Die Qualle steht still im Wasser.
„Hat dich der Mondfisch gefressen?“, ruft Glitter. „Sind wir dann auch gefressen worden und alle in seinem Bauch?“
„Ich weiß auch nicht, was los ist“, antwortet die Qualle. "Ich sehe nichts mehr und es geht nicht weiter. Ich schwimme immer gegen etwas, aber ich weiß nicht, was es ist.“
„Sollen wir mal nachsehen?“, fragt Glitter.
„Ja bitte, aber seid vorsichtig“, sagt die Qualle.
Glitter macht einem moppeligen Fischlein ein Zeichen, dass es mitkommen soll. Sie verlassen die Glocke durch die Tentakel. Nach einer Weile hört man Glitters Stimme: „Qualle, du bist in etwas drin. Aber ich weiß noch nicht in was. Dahinten ist ein Ausgang. Wir schwimmen mal hin.“
Diesmal dauert es noch länger. Die Fischlein im Innern der Qualle schlagen besorgt die Flossen zusammen: „Wo die wohl bleiben? Hoffentlich ist nichts passiert!“
Glimmer wagt sich etwas aus den Tentakeln hervor. „Ich sehe sie. Sie kommen zurück.“
Glitter und sein Begleiter schwimmen in die Mitte der Gruppe. „Qualle ist in eine Plastiktüte geschwommen. Wahrscheinlich hat sie sich gerade nach dem Mondfisch umgedreht und die Tüte nicht gesehen.“
„Wie komme ich denn aus der Tüte raus?“, fragt Qualle. Ich kann nicht einfach den Rückwärtsgang einlegen.“
„Du musst in der Tüte drehen. Wir weisen dich ein“, sagt Glitters Begleiter.
„Aber vielleicht ist es besser, noch ein wenig zu warten“, schlägt Glimmer vor. „Der Mondfisch wundert sich bestimmt, wo du bist. Der kapiert nicht, dass du in der Tüte steckst und sucht anderswo nach dir. Und wenn er weg ist, lotsen wir dich aus der Tüte.“
Sie warten eine halbe Stunde. Dann wagen sich die Fischlein nach draußen und schauen sich um. „Qualle, er ist weg“, ruft Glitter. „Du kannst drehen.“
„Du hast gut reden. Ich kann nicht so einfach drehen. Hier ist kein Platz, ich kann mich kaum bewegen.“
„Wir helfen dir. Du schaffst das schon.“
Die Fischlein verteilen sich um die Qualle und geben ihr Anweisungen: „Nicht so weit nach vorne“ oder „nicht so nah an die Wand“ und „ein wenig mehr nach links.“
Endlich ist es soweit. Die Qualle flutscht aus der Plastiktüte. „Danke Jungs, ohne euch hätte ich das nicht hingekriegt. Und dann wäre ich in der Tüte verhungert. Ich bin jetzt schon so hungrig. Lasst uns unser Picknick fortsetzen. Ich besorge uns noch etwas Plankton.“
Sie schwimmt näher an den Grund heran.und wirbelt die kleinen Teilchen auf. Die Fische schlagen sich die Bäuche voll. Dann kehren sie durch den Tentakelwald in die Quallenglocke zurück und schlafen erschöpft ein.

© 2016 Matilda Mench



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