Ich will wieder
Ich fahre schweißgebadet hoch. Ich bin in meinem Schlafzimmer. Nur langsam gibt mich mein Albtraum frei: Ich habe schon wieder geträumt, ich sei Angela Merkel.
„Ich will wieder.“ Das sage ich im November 2016 vor Millionen Deutschen in einer Talkshow. Drei klare Worte: „Ich will wieder.“ Ob mir damit auch wieder so ein Klassiker gelingt, wie „Wir schaffen das?“
Zeitlich passt mir eine weitere Amtszeit als Bundeskanzlerin ausgezeichnet. Danach kann ich direkt in Rente gehen. Es muss klappen! Wenn ich nicht gewählt werde, muss ich mir was einfallen lassen. Vier Jahre in meinem Alter zu überbrücken, ist nicht leicht. Zu alt und nicht mehr lukrativ als Arbeitskraft. Zu jung, um nichts mehr zu tun. Nein, die vier Jährchen nehme ich noch mit. Im Ruhestand kann ich dann nach Malle ziehen. Dort werde ich es krachen lassen: Ich werde einen veganen Kochkurs machen, Salsa tanzen lernen und eine neue Haarfarbe ausprobieren. Vielleicht lege ich mir ein Tattoo als Erinnerung an meine Zeit im Amt zu. Wie wäre es mit der Deutschlandflagge, wie sie sich über dem Reichstag im Wind schlängelt?
Ich meine tatsächlich, was ich sonst noch in der Talkshow sage: Ich will die Sorgen der Menschen wahrnehmen, die unter den Befristungen der Arbeitsplätze leiden müssen. Ich kann zwar nichts dagegen tun, aber ich werde dem Volk jetzt zuhören. Die Sorgen der Menschen wahrnehmen. Das wird das Volk besänftigen. Wahrnehmen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Bis ich zum Lösen der Probleme komme, ist meine Amtszeit dann sowieso um. Pech gehabt. Dumm gelaufen.
„Meine Politik passe ich der Wirklichkeit an“, sage ich. Durch geschickte Rhetorik werde ich mein Volk davon ablenken, zu hinterfragen, in wessen Amtszeit die befristeten Arbeits- und Werkverträge so in Mode kamen.
Dafür, dass es den meisten Rentnern finanziell nicht sonderlich gut geht, bin ich nicht verantwortlich. Den problematischen Anstieg der Lebenserwartung kann man mir nicht in die Schuhe schieben. Und für Pegida, AfD und Reichsbürger kann ich auch nichts.
Wieso regen die sich überhaupt alle so auf? Im Ausland bin ich eine Ikone. Ich halte die Welt zusammen und zuhause schimpfen sie auf mich.
Wenn die wüssten, wie anstrengend mein Job ist! Die kriegen überhaupt nicht mit, mit was man sich täglich rumschlagen muss. Lothar de Maizière hatte seinerzeit bei der Absage des Länderspiels in Hannover recht: Man muss die Bevölkerung vor zu viel Wissen schützen. Außerdem ist Wissen bekanntlich Macht und die sollte man mir nicht nehmen können.
Leider klappt es im Herbst 2017 nicht mit meiner Wiederwahl. Mein Volk will mich nicht wieder. Dafür bin ich selbst verantwortlich. Ich kann mich einfach nicht auf den Wahlkampf konzentrieren. Zu viel Ablenkung: Anschläge, nach denen ich dem Volk versichern muss, dass wir einfach so wie bisher weiter machen sollten. Plötzlich wählen die Amerikaner Donald Trump zum Präsidenten und der verbrüdert sich auch noch mit Putin. Natürlich muss ich mit dem französischen Präsidenten dagegenhalten. Immer wieder muss ich in die Türkei und Erdoan besänftigen, weil sich deutsche Comedians nicht beherrschen können. Und dann taucht auch noch Martin Schulz als Kanzlerkandidat auf!
Ich hätte noch rasch das Wahlrecht für Flüchtlinge einführen sollen. Das wären genau die Stimmen gewesen, die mir jetzt zum Wahlsieg fehlen. Früher warf man mir vor, ich sei kalt. Und dann zeige ich einmal eine warme Reaktion und lasse die Flüchtlinge rein und schon wieder ist es nicht recht. Na ja, so gehe ich wenigstens als „Kanzlerin der Barmherzigkeit“ in die Geschichte Deutschlands ein.
Professionelle Herren in grauen Anzügen geleiten mich durch den Hinterausgang des Kanzlerpalastes nach draußen. Vorne steht die Presse. Doch der kann ich mich jetzt nicht stellen. Wenn nur einer fragt: „Frau Merkel, was haben Sie denn jetzt vor?“, würde ich in Tränen ausbrechen.
„Bäckereiverkäuferin“, schlägt mein alter Freund Matthias vor, der sich mittlerweile für einen Mentor hält, weil ich oft seinen Rat brauche.
„Bäckereiverkäuferin?“, frage ich. „Da muss man doch mitten in der Nacht aufstehen.“
„Das packst du, Angie“, sagt er. „Früher bist du ja auch mit den Zeitverschiebungen klargekommen, wenn du Staatsbesuche im Ausland gemacht hast.“
„Das stimmt, aber das war ja auch immer nur für kurze Zeit.“
„Genau. Die Regelmäßigkeit wird es einfacher machen. Und, ganz wichtig: Diese Branche diskriminiert nicht aufgrund des Alters. Die Fluktuation beim Personal ist so groß, dass die einfach jede nehmen.“
„Sogar mich?“
„Sogar dich. Und noch einen Vorteil hat der Job.“
„Dass ich umsonst jede Menge Torten futtern darf? Das ist kein Vorteil. Ich werde platzen.“
„Nein, die Arbeitskleidung. Die wird gestellt und du brauchst dir morgens keinen Kopf darüber machen, ob du nun einen dunklen oder hellen Kurzblazer anziehst.“
Das überzeugt mich, denn ich stehe nicht gerne vor dem Spiegel. Make-up und komplizierte Frisuren sind nicht mein Ding.
Ich überfliege die Kleinanzeigen in der Lokalzeitung und werde fündig. „Bäckereiverkäuferin in Teilzeit gesucht“ steht da. Mehr als eine Handynummer steht nicht dabei. Ich rufe an und soll gleich vorbeikommen.
Beim Vorstellungsgespräch herrscht klare Ansage. „Zwei Tage Probearbeiten. Unbezahlt“, dringt es durch den dicken Zigarettenrauch im Mini-Büro zu mir. „Wenn Sie geeignet sind, machen wir einen Vertrag.“
„Ab wann denn?“, frage ich.
„Ab nächsten Monat, vorher kommen Sie noch ein paar Mal vorbei, um sich einzuarbeiten.“
Meine Kehle ist ganz trocken, als ich schlucke. „Sie meinen, ich soll schon vor Vertragsbeginn regelmäßig arbeiten?“
„Oder möchten Sie lieber alleine dastehen? Es ist besser, Sie kennen sich aus, bevor Sie den Laden schmeißen müssen“, kommt es durch die Rauchwolke zurück.
Ich fahre mit dem Bus zur Filiale. Ich setze mich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung auf einen Viererplatz. Mir gegenüber sitzen zwei Jugendliche. Geschwister, wie ich gleich herausfinden werde. Der Junge ist im Sitz nach unten gerutscht. Sein Kopf ruht auf der Kapuze seines Anoraks. Er döst. Plötzlich zieht eine ältere Frau mit Pelzmütze von hinten fest an seiner Kapuze. Verwirrt dreht er sich um.
„Setzen Sie sich mal gerade hin, junger Mann!“, sagt sie. „Und nehmen Sie die Kapuze ab! Vermummung mögen wir in diesem Land nicht.“
Seine Schwester dreht sich auch um und sagt in akzentfreiem Deutsch: „Lassen Sie meinen Bruder in Ruhe. Er hat überhaupt nichts gemacht.“
Im vollbesetzten Bus ist es ganz still. Mir bleibt zunächst die Luft weg. Darf man sich so was mittlerweile in diesem Land erlauben? Da muss man doch gegenhalten, denke ich und sage zu der Frau: „Das ist doch unglaublich! Er ist weder vermummt, noch hat er etwas getan. Sie tragen doch auch eine Kopfbedeckung.“
Eine Frau schräg gegenüber mischt sich ein: „Genau. Und dazu noch mit Echtpelz. Sie tragen ein totes Tier auf dem Kopf. Pelz mögen wir in diesem Land auch nicht!“
Wir nicken uns zufrieden zu. Die ältere Frau hat sichtlich nicht mit einer Reaktion gerechnet und geht zur Tür. Bevor sie aussteigt, dreht sie sich zu uns um und schaut ratlos.
„Viel Spaß in der Hölle“, rufe ich ihr noch zu. Mann, tut das gut! Als Bundeskanzlerin hätte ich mir das nicht erlauben können.
„Schon wieder ein neues Gesicht!“, stöhnen manche Kunden.
Ich versuche, das Eis mit einem Scherz zu brechen: „Von mir dürfen Sie freundliche Inkompetenz erwarten.“
Leider versteht kaum jemand die Ironie und nach einigen Stunden streiche ich den Satz aus meinem Repertoire.
Die Zeit vergeht schnell. Ich darf den Backofen bestücken, Kunden bedienen, Brötchen schmieren, spülen und die Personaltoilette putzen. Meine Füße tun vom langen Stehen höllisch weh, aber die Tatsache, dass ich heute gut genug war, um morgen den zweiten Probetag absolvieren zu dürfen, lässt mich den Schmerz ertragen.
Am nächsten Tag werde ich noch mehr gefordert: Ich soll mir die einzelnen Preise merken. Dann kann ich den Gesamtpreis im Kopf ausrechnen, bevor ich mich durch den Tasten-Dschungel der neuen Computerkasse durchgewühlt habe. Stammkunden wissen ohnehin, was sie bezahlen müssen und halten das Geld bereits abgezählt in der Hand. Ich soll sie nicht mit dem Drücken der Zwischensummentaste aufhalten, sondern gleich das Geld nehmen, damit sie gehen können. Einbongen kann ich ja hinterher. Natürlich vergessen meine Kollegin und ich in der Hektik, was die Kunden gekauft haben und haben am Ende zu viel Geld in der Kasse. Aber zu viel ist besser, als zuwenig.
Wir dürfen nichts kostenlos essen oder trinken, auch wenn es noch so lecker riecht. Wir sollen 50 % zahlen und den Bon unterschreiben lassen. Somit werde ich nicht zunehmen, denn die Hälfte von irgendeinem Gebäckstück ist immer noch zu viel für mein Budget. Auch nach Ladenschluss dürfen uns nichts mitnehmen, obwohl fast alles in die Mülltonne wandert.
Ich komme noch eine Woche umsonst zum Arbeiten, damit ich an meinem ersten bezahlten Tag alles drauf habe. Vorher muss ich noch einmal ins Büro kommen. Ich muss meine Belehrung vom Gesundheitsamt abgeben, für die ich privat 30 Euro bezahlen musste. Außerdem soll ich unbedingt eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreiben. Ohne die gibt es keinen Job. Ich überlege, was es denn so Vertrauliches in einer Bäckereifiliale geben kann: Dass Brötchen, die auf dem Boden landen, sofort wieder in den Verkauf kommen, sobald der Kunde den Laden verlassen hat? Die geheimen Rezepte der fertigen Backmischungen, die als handwerkliche Eigenkreation ausgegeben werden? Ehe ich zu einem Ergebnis komme, werden mir eine Mülltüte mit Arbeitskleidung und ein Schlüssel in die Hand gedrückt.
Zuhause stelle ich fest, dass die Klamotten mehr als gut gebraucht sind. Die von mir angegebene Größe ist stark eingelaufen und verzogen. An einigen Stellen sind kleine Löcher. Die Kragenecken sind wie von einem Bügeleisen verbrannt. In dem Aufzug soll ich den Kunden gegenüber treten? Textmarkerorange ist sowieso nicht meine Farbe.
Jeder Arbeitstag beginnt mit dem Auspacken der Tageszeitungen. Eigentlich bräuchten wir nur die BILD, denn die anderen verkaufen sich selten. Die großen Überschriften und Fotos veranlassen die Kunden grundsätzlich zu einem Kommentar darüber, wie schlecht die Welt ist. Wenigstens bin ich jetzt nicht mehr auf der Titelseite.
Trotzdem fliegt meine Deckung beinahe auf. „Irgendwo her kenne ich Sie“, sagt eine Kundin. „Aber woher nur?“
„Tut mir leid, aber ich kann mich an Sie überhaupt nicht erinnern“, sage ich. „Vielleicht verwechseln Sie mich mit jemandem?“
„Da können Sie recht haben“, sagt die Kundin. „Sie sehen Angel Merkel sehr ähnlich“.
Ich sage nichts, weshalb die Kundin hinzufügt: „Sie wissen doch, unsere ehemalige Bundeskanzlerin. Hat man Sie noch nie auf die Ähnlichkeit angesprochen?“
„Nein, bisher nicht. Möchten Sie das Brot geschnitten oder am Stück?“
„Geschnitten bitte“, sagt sie und damit ist das Thema zum Glück erledigt.
Wenn die sich nicht zu schade ist, in einer Bäckerei zu arbeiten, ist sie für dieses Land richtig, würde so manch einer sagen. Diese Volksnähe gefällt den Wählern. Wenn ich nur früher daran gedacht hätte! Im Sommerurlaub nicht faulenzen, sondern in einer Bäckerei arbeiten. Dann hätten sie mich im September 2017 vielleicht gewählt, überlege ich, als die Kundin den Laden verlässt.
Zu Matthias sage ich: „Ich verstehe nicht, wieso Bäckereiverkäuferinnen so ein miserables Image haben. Die arbeiten nicht dort, weil sie irgendwie unterbelichtet sind. Die können dort arbeiten, weil sie fit genug und motiviert sind. Was der Kunde, der morgens schon früh in den Laden drängt, gerne übersieht, ist, dass die Frau hinter der Theke bereits seit Stunden körperliche Hochleistungen erbracht hat, damit die Auslagen und Regale pünktlich eingeräumt sind.“
Er winkt ab: „Das ist eben so in den Köpfen drin. Das wirst du nicht ändern, Angie.“
Doch ich möchte unbedingt etwas zur Imageverbesserung der Bäckereiverkäuferinnen tun. Es ist schließlich nicht nur ein Knochenjob, sondern man benötigt auch eine gewisse Expertise. Zum Beispiel die Brötchen: Das Backen ist viel komplizierter, als mal eben ein paar Rohlinge in den Ofen zu knallen und einen mit einem Bild hinterlegten Knopf zu drücken. Der Ofen ist ein spuckendes und fauchendes Ungetüm, an dem man sich leicht verletzen kann. Nach kurzer Zeit sehen meine Unterarme durch die Brandnarben so aus, als ob ich mich geritzt hätte.
Die Rohlinge erweisen sich als wahrhafte Sensibelchen. Der Teig ist sehr empfindlich und reagiert immer anders. Wenn es kalt ist oder der Bäckereifahrer die Rohlinge nachts um drei ins Kühlhaus gestellt hat, geht der Teig nicht auf und die Brötchen bleiben klein wie Walnüsse. Also müssen sie in den Gärofen, wo es kuschelig warm und feucht ist. Wie zur Monsoon-Zeit in Asien, aber eben ohne Regen. Leider scheint es keine Regel zu geben, wie lange sie dort bei welcher Temperatur bleiben müssen, bevor man sie drehen kann. Man muss also immer mal nachschauen, damit die Brötchen nicht explodieren. Sind sie zu groß, liegen sie zu dicht aneinander und backen zusammen. Wenn man sie dann auseinanderreißt, ist die Kruste beschädigt. Das Drehen selbst ist auch nicht einfach. Dabei werden die Brötchen von den Plastikdielen auf Bleche transportiert. Man muss das ganz flott machen, sonst rutschen die Brötchen alle in eine Ecke oder liegen nicht mit der Sollbruchstelle nach oben. Per Hand drehen und verschieben ist auch keine gute Idee, denn dann verlieren sie ihre Form. Manchmal müssen sie mit einem kleinen Messer nachgeritzt werden, damit die Kerbe entsteht. Und alles das muss man rechtzeitig vor Ladenöffnung schaffen. Natürlich ist man um die Zeit noch sehr müde und vergisst schon einmal, die Taste am Ofen zu drücken, wenn man die Bleche hineingeschoben hat. Dann kann man die Brötchen wegwerfen. Sie backen nicht richtig durch und bekommen weder die typische Farbe noch den Glanz. Das ist eine Katastrophe, denn in der Regel erwischt es nicht nur ein Blech, sondern gleich vier oder fünf. Wo bekommt man dann Ersatz her? Und erst der Ärger mit dem Chef!
Dessen Zorn zieht man sich auch zu, wenn ein Kunde eine bestimmte Torte bestellt hat, die nicht geliefert wurde. Die Fahrer liefern manchmal in die falsche Filiale. Hier fehlt etwas, dort gibt es viel zu viel davon. Glücklicherweise ist es erlaubt, den Austausch mit Eigeninitiative und Privatautos gerade noch rechtzeitig zu organisieren.
Beim Tortensetzen stoße ich an meine Grenzen. Die Tortenstücke müssen gleichmäßig geschnitten werden. Dann wird ein transparenter Folienstreifen um sie herumdrapiert, damit sie sich auf der Platte nicht berühren. Das Stück Rhabarberkuchen könnte sonst von einem Hauch Buttercreme kontaminiert werden oder gar von einer Erdeere. Für diese Arbeit braucht man eine ruhige Hand. Die habe ich einfach nicht, wenn der Laden voll ist. Die Tortenstücke fallen mir um oder der Boden springt beim Schneiden in kleine Stücke. Wie macht es meine Kollegin nur, dass sie keine sahnigen und klebrigen Finger hat? Wenn der Kunde dann noch auf alle Stücke einen Sahneklecks möchte, steigt mein Adrenalin. Ich kriege es einfach nicht hin, der Sahnemaschine einen perfekt aussehenden Klecks abzuringen, der noch dazu genau der Gewichtsangabe für eine Portion entspricht. Oft sehe ich, dass meine Kollegin mich aus den Augenwinkeln heraus beobachtet. Sie sagt zwar nichts, aber ich weiß, dass sie meint, ich sei ein Volltrottel.
Dann muss das Kunstwerk auch noch verpackt werden. Dazu reißt man das Papier von einer Rolle ab. Ich habe noch keinen Blick dafür, welche Länge ich abreißen muss und fürchte immer, dass ich den Sahneklecks beim Einpacken zerdetsche. Schleichend stellt sich bei mir eine Torten-Phobie ein. Nie wieder kann mich der Anblick eines Stücks Torte in Versuchung führen. Ich empfehle unentschlossenen Kunden grundsätzlich Blechkuchen. Da kann nichts schiefgehen. Bienenstich, gedeckter Apfelkuchen und Käse-Sahne schmecken ja auch gut. Zu meiner Erleichterung bevorzugt die jüngere Generation ohnehin Donuts und Cup Cakes, die man einfach in eine Tüte stopfen kann.
An meinem ersten Arbeitstag als Einzelkämpferin bekomme ích gleich früh einen Kontrollanruf von der Filialleitung. „Wie läuft’s?“, werde ich gefragt. Es würde besser laufen, wenn ich nicht mit einem Telefonhörer in der Hand Waren ausräumen müsste, denke ich, gebe mich aber freundlich.
Ein Schweißausbruch geht in den nächsten über. Nicht nur weil es draußen schon am frühen Morgen heiß ist und der Backofen nicht zur Abkühlung beiträgt. Wie viele Fragen da noch sind, wenn man auf einmal alleine ist. Und wieso haben alle Kunden Extrawünsche? „Drei helle Brötchen bitte“, „vier dunkle Brötchen“, „können Sie die Kruste abschneiden?“, „bitte möglichst dick schneiden“, „dünn geschnitten, bitte“, „können Sie das Brot längs in Scheiben schneiden?“, „eine Butterlaugenecke mit Remoulade und Salami, aber ohne Grünzeugs“. So geht es den ganzen Tag. Kurz vor Ladenschluss fragt dann jemand: „Haben Sie warme Brötchen?“
Wirklich wichtige Fragen wie: „Ist das Brot von heute?“, „ist der Salat gewaschen?“, oder „ist in der Putensalami wirklich nur Pute oder doch auch Schweinefleisch?“, stellt zum Glück keiner, denn ich würde ungern lügen müssen.
Manche Kunden regen sich darüber auf, dass das Personal keine Handschuhe trägt. Andere wieder stört die Plastiktüte, die ich mir in Sekundenschnelle über die Hand stülpe, wenn ich Backwaren anfasse und die ich wieder abstreife, wenn ich die Kasse bediene.
Es gibt auch nette Bemerkungen: „Wie süß, Sie sind ja ganz mit Mehl bestäubt“, sagt eine Kundin.
Die ersten anderthalb Stunden eines jeden Tages arbeite ich unbezahlt. Erst wenn der Laden aufmacht, gibt es Lohn. Doch die Kunden drängen schon ins Geschäft, sobald sie Licht sehen, egal, ob die Regale und Vitrinen befüllt sind, oder nicht. „Wenn Sie sowieso schon da sind, können Sie auch ruhig Umsatz machen“, meint der Chef.
Täglich 90 Minuten unbezahlter Arbeit lassen den Mindestlohn ins Unendliche nach unten purzeln, überlege ich. Würde ich mehr Lohn bekommen, wenn ich ein Mann wäre? Wo kann ich das erfahren?
Auch in der Nachmittagsschicht darf ich nach Ladenschluss unbezahlt arbeiten. Unter dem Gesichtspunkt, dass Bewegung gesund ist, rotiere ich gerne durch den Laden, packe alle Torten und Gebäcksstücke um, renne zig Mal ins Kühlhaus, fülle Körbe mit abgeschriebenen Broten und Brötchen, zermatsche übrig gebliebene Rohlinge, wische die Regale und Theken aus, spüle, kehre den Boden und wimmele freundlich die Kunden ab, die noch an die Tür klopfen. Dann kommt die Kassenabrechnung, die Bestellungen werden durchgegeben und schon beginnt die Freizeit. Die fängt in der Regel mit einem Sprint zur Toilette an, denn wenn ich alleine arbeitee, darf ich den Laden nicht verlassen.
Zuhause ist man weiterhin im Dienst. Man schaut einen „Tatort“ an und da kommt ein Anruf, dass man morgens gleich früh diverse Platten mit vier Sorten Blechkuchen in einer speziellen Reihenfolge setzen muss. Die großen Stücke müssen halbiert und versetzt auf der Platte verteilt werden. Das sieht nach mehr aus. So spart der Beerdigungsunternehmer, der schon kurz vor Geschäftsöffnung kommt, Geld. Oder man muss früher kommen, weil 50 belegte Brötchen bestellt sind. Selbstverständlich muss man die vorher nicht nur schmieren, sondern auch noch backen.
Ich merke, dass die Konkurrenz der Billigbäcker und die Demografie die Filiale hart treffen. Wöchentlich sterben Stammkunden weg. Die Öffnungszeiten werden reduziert. Ohne Rücksicht auf bereits bestehende Schicht- und Urlaubspläne werden Stunden gestrichen. Die Belegschaft regt sich zwar auf, redet aber immer nur untereinander. Mit dem Chef spricht niemand. Ich rege an, dass sie sich an die Öffentlichkeit wenden sollen. Warum nicht einen Politiker finden, der sich ihrer Sache annimmt? „Angie, du glaubst doch nicht, dass die in der Politik sich für uns interessieren? Die haben doch ausgesorgt“, sagt ein Kollege.
Na ja, mir kann es egal sein, denke ich. Ich mache das hier nur vier Jahre.
Die drei Monate Probezeit vergehen rasch. Dass ich übernommen werde, erwähnt niemand. Mir fällt eines Morgens auf, dass ich an der Kasse jetzt nicht mehr die Aushilfentaste drücken muss, sondern dass eine der Bedienertasten jetzt mit meinem Namen hinterlegt ist. Ich freue mich still. Ich habe es gepackt und mir nebenbei eine neue Qualifikation erworben!
Im Laufe der Zeit stelle ich fest, dass eine Bäckereiverkäuferin auch als Seelsorgerin fungieren muss. Nicht nur für die Kolleginnen, die auch nicht erwartet hatten, in ihrem Alter noch so hart arbeiten zu müssen. Auch die Kunden schütten gerne ihr Herz aus. Ich muss mir merken, wer gerade eine Chemotherapie macht, wessen Bruder oder Schwester gerade im Altersheim verstorben ist, wer gerade eine Erkältung hat und wessen Hund dringend operiert werden muss.
Ich beobachte, dass junge Leute grundsätzlich mit Scheinen bezahlen, während sich Kunden mittleren und höheren Alters die Zeit nehmen, genüsslich Ein- und Zwei-Cent-Stücke aus dem kleinen Portemonnaie herauszusuchen. Sie sind überzeugt, dass eine Bäckerei Kleingeld braucht, und dass sie uns einen Gefallen tun. Manch einer hat sogar einen Behälter dabei, in dem er Kleingeld gesammelt hat. Ich lächele geduldig, während sich hinter dem suchenden und zählenden Kunden eine Schlange bildet.
Ich lächele auch, wenn die Stammkunden jeden Tag zur gleichen Zeit genau die gleiche Anzahl der gleichen Brötchen kaufen. Das Ritual gebietet, dass ich ihre Wünsche erst erfrage, obwohl ich ihnen bei Betreten des Ladens bereits die volle Tüte entgegenhalten könnte.
Ab und zu wird die erstickende Vorhersehbarkeit auf erfrischende Weise unterbrochen. Immer wieder kommen Kunden, die eine Geburtstagstorte bestellen, die nach ihren Wünschen dekoriert werden soll. Ich notiere alle möglichen Sprüche und die korrekte Schreibweise der Vornamen für den Konditormeister. Als mir jedoch eine Frau diktiert: „Happy Birthday, Adolf“, stoppt mein Stift auf dem Zettel. Ich werfe einen kurzen Blick auf sie, dann in den Kalender. Nein, das Datum ist nicht das Geburtstagsdatum des Führers. Es handelt sich lediglich um einen armen Menschen, der sein ganzes Leben mit diesem Vornamen herumlaufen muss. Die Wahl von Vornamen unterliegen Modetrends, überlege ich später. Ob dieser Vorname jemals wieder in Mode kommen wird? Oder gibt es ein Gesetz, das diesen Namen untersagt und Standesbeamte dazu berechtigt, den Namenswunsch abzulehnen? Man könnte ihn auch mit „ph“ am Ende schreiben. Dann wäre der Namen amerikanisiert und keiner hätte ein Problem damit, oder?
Für eine Betriebsfeier bestellt ein Mann sechs riesige Nikoläuse. Es sollen jeweils drei Paare sein. „Mann und Frau?“, frage ich und er schaut mich verständnislos an. Ich notiere die Bestellung und erwarte automatisch, dass die Nikoläusinnen einen Rock tragen werden, um sie von ihren Männern unterscheidbar zu machen. Am nächsten Tag lädt der Fahrer fröhlich pfeifend die großen Bleche aus. „Der Chef war kreativ“, sagt er. Ich unterbreche meine Rennerei und schaue mir die Nikoläuse an. „Das kann man doch nicht verkaufen“, sage ich. „Das ist ja widerlich!“ Die Nikoläuse sind nackt. Zwecks Unterscheidung haben sie üppige Geschlechtsteile. Die Brüste der Nikoläusinnen sind mit einer knallroten Kirsche garniert. „Ich weiß, was ich zuerst abbeißen würde“, sagt eine Rentnerin, als ich dem Abholer helfe, die Bleche im Auto zu verstauen.
Das Verhalten der Kunden lässt sich überhaupt nicht einschätzen. Obwohl sich niemand im Vorfeld abspricht, wollen häufig alle das Gleiche. Muss man an einem Morgen Unmengen von Croissants nachbacken, weil keiner Brötchen oder Laugenstangen will, werden die Croissants am nächsten Morgen global verschmäht, weil alle Laugenstangen wollen. Die Bestellung für den nächsten Tag zu machen, ist wie Zocken.
Warum kommen die Kunden an manchen Tagen einer nach dem anderen in den Laden, so dass man einen nicht abreißenden Strom von Kundschaft hat? Wieso kommen sie an anderen Tagen nur in Gruppen, obwohl sie sich nicht kennen und sich nicht abgesprochen haben? Entweder fünf gleichzeitig mit Sonderwünschen oder lange Zeit niemand. Als gelernte Wissenschaftlerin versuche ich, herauszufinden, welchen Regeln diese Gruppen-Dynamik folgt. Doch ich komme auf keine Formel.
Vielleicht liegt das auch daran, dass ich einfach vollkommen übermüdet bin. Meine Haare und die Haut unter den Augen hängen kraftlos herab. Zuhause verlieren sogar die Plastikblumen die Blätter. Seit ich mitten in der Nacht aufstehen muss, weiß ich, dass meine Nachbarn ein unsoziales Pack sind. Sie nehmen keine Rücksicht auf die arbeitende Bevölkerung und machen jeden Abend Party. Ich möchte zurückschlagen und morgens richtig laut sein, wenn sie schlafen. Ich könnte zum Beispiel bei offener Badezimmertür duschen. Der Wasserdampf löst den Rauchmelder aus, den ein genialer Handwerker direkt vor dem Badezimmer installiert hat. Oder ich könnte meine Wohnungstür zuschlagen und mit Leergut durch das Treppenhaus poltern. Warum nicht Klingelmännchen spielen? Ich mache nichts davon. Als Kind wurde mir eingetrichtert, dass man auch die andere Wange hinhalten soll. Soweit möchte ich zwar nicht unbedingt gehen, aber wenn ich morgens zu viel Energie in mein Racheprojekt stecke, kann ich mich nicht mehr richtig auf die Kasse konzentrieren und muss draufzahlen.
Mein letzter Tag. Ab jetzt bin ich im Ruhestand. Ich gebe den Schlüssel ab und gehe mit meinem Rollkoffer zur Bushaltestelle. Dort wartet auch ein Entenpaar auf den Bus. Ich finde das lustig. Für die übrigen Leute scheint es Alltag zu sein, denn außer mir lacht keiner. Als der Niederflurbus kommt, watscheln die Enten zur hinteren Tür. Sie warten, bis die Dame mit dem Rollator ausgestiegen ist und steigen ein. Wohin sie wohl fahren, frage ich mich. Doch ich verfolge den Gedanken nicht weiter. Ich fahre zum Flughafen.
© Matilda Mench 2017